Vor kurzem habe ich zum ersten Mal den Film Der unglaubliche Hulk gesehen, obwohl dieser schon etwas älter ist (2008). Dies war meine erste Begegnung mit dem Superhelden Hulk und ich musste sofort an den Dr. Jekyll und Mr. Hyde Topos denken: Ein „netter Kerl“ braucht seinen personifizierten Schatten, um seine (un)bewussten Wünsche zu leben oder bedrohlichen Menschen Grenzen zu setzen.
Edward Norton war wohl kaum eine zufällige Wahl für diese Hauptrolle, ist er doch in seinem schauspielerischen Talent und seiner Erfahrung ein Meister der Persönlichkeitsspaltung. In Fight Club muss der Protagonist feststellen, dass sein Freund Tyler Durden eigentlich er selbst ist. In Zwielicht ist der gute Persönlichkeitsanteil des Protagonisten allerdings nur eine Persona – eine Maske, die ihn vor der gesetzlich angedrohten Strafe schützen soll, obwohl er schuldig ist.
Aber zurück zu unserem Hulk: Am Anfang des Films versteckt Bruce Banner aka Hulk sich in Brasilien. Sein Wohnort Rocinha ist düster, mit rauen Menschen besiedelt und macht einen fast unzivilisierten Eindruck. Das ist die Welt des Hulk. Bruce Banner fühlt sich dort geschützt (vor sich selbst), wahrscheinlich weil er unbewusst mehr in Kontakt mit seinem Schatten ist, obwohl er durch mentales Training mit einem Lehrer weiterhin versucht, Kontrolle über seine starken Emotionen zu gewinnen. Aber ohne Kontakt zur Außenwelt muss er zumindest niemandem eine Normalität vorgaukeln, die in seinem Leben nicht existiert.
Nach einer Verfolgungsjagd begibt er sich in das divergierende Virigina: Die zivilisierte, geordnete Welt der Wissenschaft – und vor allem die Welt des Dr. Banner, in der auch dessen Liebe Betty Ross zu Hause ist.
Wozu braucht man überhaupt Wut? Ist sie doch ein unangenehmes Gefühl, für denjenigen, der sie empfindet, als auch für die Außenwelt, wenn sie ausagiert wird.
Die Tiefenpsychologin Verena Kast schreibt in ihrem Buch Vom Sinn des Ärgers – Anreiz zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung: „So regt Ärger an, Grenzen zwischen Menschen zu bereinigen, oder zumindest über Grenzen nachzudenken, aber auch, sich mit dem verletzten Selbstwert auseinander zu setzen. Diese Emotion reguliert Schwierigkeiten mit unseren Grenzen, reguliert unseren Selbstwert bei Erfahrungen von etwas Beleidigendem und / oder Aversivem, reguliert aber auch unsere Beziehung zum Unbewussten, unsere Beziehung zum Körper und unsere Beziehung zum Du, aber auch zur Gesellschaft.“
Wer das Buch Die Wolfsfrau von Clarissa Pinkola Estés gelesen hat, erfährt, dass es keine Entwicklung von spiritueller Stärke gibt, wenn man sich nicht mit dem aus einem Märchen stammenden Archetyp der Baba Yaga aussöhnt und diesen in die Persönlichkeit integriert. Der Umgang damit muss erlernt werden.
Bruce Banners Freundin Betty Ross akzeptiert den Mann in seiner Ganzheit – auch als Hulk. Sie ist eine Anima-Figur, die Banner zurück zu seiner eigenen Natur führen will, die alle Anteile seiner Persönlichkeit mit einschließt. Nicht umsonst sucht Hulk gemeinsam mit ihr Schutz in der realen Natur, findet dort Frieden und kann sich so zurück in Banner verwandeln. Sie lehrt in Achtsamkeit mit sich selbst: „Don’t hurt your head!“ (dt.: Pass auf deinen Kopf auf!).
In der intimen Szene zwischen den beiden versucht Banner das Abrutschen in die Welt der Triebhaftigkeit aber wieder um jeden Preis zu verhindern: „I can’t get too excited!“ (dt.: Ich darf mich nicht zu sehr aufregen. / Ich darf nicht zu erregt werden.)
Auch das Gespräch im Auto enthält das selbe Muster, als er versucht zu negieren, dass Hulk Teil von ihm ist, während Betty ihren Bruce Banner in Hulk bereits entdeckt hat. Denn in Kontakt mit Hulk konnte sie erkennen, dass auch Hulk wusste, wer sie ist und Zuneigung für sie zeigte: „Maybe your mind is in there. It’s overcharged and can’t process what’s happening.“ (dt.: Vielleicht ist dein Geist noch da drinnen. Er ist überfordert und kann das Geschehene nicht verarbeiten.) Aber derzeit will Banner noch nichts von Hulk wissen: „I don’t want to control it, I want to get rid of it!“ (dt.: Ich will es nicht kontrollieren, ich will es los werden!“)
Im Anschluss an eine turbulente Taxifahrt mit einem verrückten und scheinbar lebensmüden Fahrer sieht man, dass Betty Ross mit ihrer Baba Yaga – ihrer wilden Frau – sehr gut in Konakt ist. Sie schreit den Taxifahrer an und bekommt von Banner die Rückmeldung: „I can show you a few techniques that could help you manage that anger effectively.“ (dt.: Ich kann dir ein paar Techniken zeigen, um mit dem Ärger besser zurecht zu kommen.“ Aber Ross befiehlt ihm zu schweigen. Sie entscheidet selbst, wann es angebracht ist, ihren Ärger verbal auszudrücken.
Hulk bezeichnet sich in Kontakt mit dem Wissenschaftler Dr. Samuel Sterns als „Mr. Green“ während der Wissenschaftlicher sich ihm im Internet als „Mr. Blue“ zu erkennen gibt. Der Deckname Mr. Green verweist analog zur Farbpsychologie wieder auf die ungezähmte Natur, während Mr. Blue auf die rationale Welt der Wissenschaft verweist. Als die beiden sich schließlich doch noch persönlich begegnen bezeichnet Sterns Hulk als „a person with that much power lurking in him“ (dt.: eine Person, in der so viel Kraft schlummert). An dieser Stelle muss ich immer an den Song Rise von Public Image Limited denken, in dem die letzte Zeile lautet: „Anger is an energy!“ (dt.: Wut ist Energie.) Wut ist also in erster Linie eine Kraft und es liegt an uns, wie sie genutzt wird.
Vielleicht wird Ärger erst kontrollierbar, wenn man willig ist, diese Kraft zu spüren und sie im richtigen Moment bewusst einzusetzen. Vielleicht hört sie dann auf in unpassenden Momenten als Schatten durchzubrechen.
Auch Bruce Banner alias Hulk versteht am Ende doch noch, dass Wut eine Funktion in unserem menschlichen Dasein erfüllt: Man braucht sie als Kraft, um Grenzen zu setzen, vor allem dann, wenn das Gegenüber keine Grenzen kennt. Banners Gegner (v. a. Bronsky) geben sich ihren Aggressionen vollkommen hin und lassen sich von der Emotion absorbieren. Bronsky ist also die andere extreme Seite – der Gegenpol – zum unterdrückten Bruce Banner.
Auch Mr. Blue ist gewissermaßen auf zerstörerische Weise aggressiv – wenn auch indirekt: Er stellt seinen wissenschaftlichen Forschungsdrang über alles – auch über die Erhaltung von Leben.
Aggression ist dann vernichtend, wenn sie sich gegen die Erhaltung von Leben und der damit verbundenen geistigen und körperlichen Gesundheit richtet. Hulk hingegen stellt die Lichtseite der Wut dar, die lebenserhaltende Grenzen setzt und dazu dient Schwächere zu beschützen. Diese Erkenntnis und schwer erkämpfte Toleranz gegenüber Alter-Ego, das eine Lebensaufgabe zu erfüllen hat, machen den unglaublichen Hulk zu dem Helden, den wir kennen und lieben.